Kaufläche und Evolution
Die Kaufläche in der Evolutionsgeschichte
27. July 2020
Kaufläche, ein evolutionärer Blickpunkt
Bei der evolutionären Entwicklung des Homo sapiens kam es zu einer Reduktion der okklusalen Dimensionen. Wie die heutigen Kauflächen der Zähne des Menschen entstanden und welche Faktoren dazu führten, erklären wir Ihnen in diesem Artikel.
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Multifunktionelle Strukturen
Die Morphologie der Kauflächen der Zähne des Menschen wurde im Laufe der Evolution aufgrund der zunehmenden Fähigkeiten, Hände inklusive Werkzeuge zu gebrauchen, neu ausgerichtet. ExpertInnen gehen davon aus, dass es durch die Reduktion der okklusalen Dimension mit einer Veränderung im Ernährungsverhalten einherging. Kleinere Kauflächen bedeuten nämlich eine geringere Möglichkeit, härtere und zähere Nahrungsbestandteile zerkleinern zu können. Gleichzeitig entwickelte der moderne Mensch aber Techniken, die es ermöglichten, an Nährstoffe zu gelangen. Nämlich indem Nahrung bereits vor dem Kauen mechanisch mit Werkzeugen oder durch Wärmeeinwirkung vorbereitet wurde.
Multifunktionelle Bedeutung der Kaufläche
Die funktionelle Bedeutung der Kauflächen wurde also zunehmend erweitert, sodass mit gutem Recht von einer multifunktionellen Bedeutung gesprochen werden kann. Gleichzeitig wurde jedoch von der Natur zugelassen, dass Zahn- und Kieferfehlstellungen häufiger auftraten, da die Nahrungsaufnahme im Laufe der Jahrtausende an sich zunehmend unkritischer wurde.
Jedoch sind die Kauflächen keine biologische Struktur. Es handelt sich um ein Werkzeug, dass für die unterschiedlichen Aufgaben immer wieder optimiert wurde. Eine dieser Aufgaben ist das Kauen. Beim Kauen werden die okklusalen Strukturen eng aneinander vorbeigeführt, ohne sich jedoch zu berühren, um den dazwischen positionierten Nahrungsbolus zu zerkleinern. Die funktionellen Zahnflächen müssen immer sowohl statisch als auch dynamisch betrachtet werden.
Statik und Dynamik
Die statische Beziehung der Kiefer und der Okklusionsflächen zueinander ist wichtig, wird aber nur selten eingenommen, zum Beispiel beim Schlucken. Diese Statik wird also in der Regel gar nicht zum Stabilisieren des Unterkiefers oder für die Körperhaltung und Balance herangezogen. Um die Einzelelemente der Zahnoberfläche zu verstehen und zu wissen welche Funktion jedes Element hat, ist das Verständnis für die Dynamik wichtig. Die Erklärung für die dynamischen Vorgänge finden sich in der okklusalen Morphologie [7]. Viele statische Funktionen der Okklusion finden exzentrisch, also nicht in der sogenannten Zentrik statt. Die Okklusion des Menschen muss daher immer dynamisch gesehen werden.
Einige Funktionen finden dann mit Zahnkontakt statt, zum Beispiel das Knirschen und Pressen (Bruxieren). Andere wiederum ohne direkten Zahnkontakt, wie zum Beispiel das Kauen und Sprechen. Aus evolutionärer Betrachtungsweise wurde dem Kauorgan durch den Wegfall einiger Aufgaben (Fangen der Beute mit kräftigen Eckzähnen, Knacken von sehr harten Schalen) der Weg frei für die Entwicklung von multifunktionellen Strukturen. Die Berücksichtigung all dieser funktionellen Aspekte erfolgt in der oralen Rehabilitation.
Evolution der Fähigkeiten
Die neu erlernten Fähigkeiten des Menschen ließen also eine Veränderung der Kauflächendimensionen zu. Trotzdem bleibt der Zusammenhang zwischen Kaufunktion und zur Verfügung stehende Kaufläche nachweisbar:
Je größer die okklusale Fläche, desto besser die Kauleistung.
Bemerkenswert ist auch, dass der dominante Eckzahn, der bei vielen Säugetieren als Symbol und Waffe eingesetzt wird, beim Menschen in der Größe und Dominanz zurückgebildet wurde. Der Eckzahn ist wieder in die Zahnreihe integriert. Auch dies kann mit einer Entwicklung der Fähigkeit, Werkzeuge und Jagdwaffen einzusetzen, in Verbindung gebracht werden [1].
In der Evolution war es also in erster Linie überlebenswichtig, dass die Zahnformen, speziell die Kauflächenmorphologie, an die jeweiligen Ernährungskategorie angepasst wurde. Dabei ist die Fähigkeit, Nahrung zu zerkleinern, nur ein Aspekt, der erst beim Homo Sapiens in den Vordergrund rückte. Zunächst mussten die Kauflächen noch zusätzliche mechanische Aufgaben übernehmen, bevor der eigentliche Kauprozess beginnen konnte: harte Schalen mussten geknackt, Knochen aufgebrochen und Wurzeln und Äste zerkleinert werden.
Kaueffizienz des Homo Sapiens
Dabei müssen unterschiedliche mechanische Aufgaben bewältigt werden: Scherkräfte zum Aufbereiten von widerstandsfähigen Blättern, vertikale Kräfte zum Aufbrechen einer Nuss. Diese mechanisch festgelegten Eigenschaften sind aus Sicht der Ernährung zu priorisieren. Denn die beste, auf die Kaufunktion ausgerichtete Kaufläche kann nur dann wirksam eingesetzt werden, wenn die Stücke auch tatsächlich kaubar sind. Morphologisch unterschiedliche Kauflächen, die die Evolution hervorgebracht hat und in “Finite-Elemente”-Programmen nachkonstruiert wurden, zeigen in Simulationsversuchen ganz unterschiedliche Wirksamkeit, bestimmte Testkörper zerkleinern zu können.
Daraus kann abgeleitet werden, dass in der Natur kein Kauflächendesign existiert, welches optimal auf sämtliche Nahrungsmittel abgestimmt ist [2]. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die doppelte Funktion der Kauflächen in allen evolutionären Schritten bis hin zur Gattung Homo zu beachten:
1. mechanisches erstes Aufbrechen
2. effizientes Zerkleinern der Nahrung
Die kognitive Leistung des Homo sapiens hat die erste Funktion entbehrlich gemacht, und die Kauflächen konnten nun tatsächlich auf Optimierung der Kaueffizienz entwickelt werden [3].
Anpassung an den aufrechten Gang
Neben der Umgestaltung der Kauflächen des Homo sapiens ist auch die gleichzeitige Abnahme der Dimension der Kiefer bemerkenswert. Dabei kam es zu einer deutlichen Abwinkelung der Schädelbasis. Das wiederum führte zu einer zunehmenden Rückentwicklung der prognathen (aus dem Gesicht herausragenden) Position des Oberkiefers. Der Oberkiefer ist insgesamt nun unterhalb der vorderen Schädelbasis positioniert. Diese Entwicklung ging einher bzw. wurde ausgelöst durch die Evolution der aufrechten Körperhaltung des Menschen. Das stellt eine hoch spezialisierte Fähigkeit dar, sich rasch und für eine lange Zeitspanne auf zwei Beinen fortzubewegen. Das erklärt auch die Entwicklung des Gehirns mit der damit einhergehenden Größenentwicklung.
Veränderung
Die Reihenfolge dieser Aufzählung soll nicht als kausale Kette verstanden werden. Vielmehr hat eines zum anderen geführt – zum Beispiel die aufrechte Körperhaltung führte zu einer geänderten Verwendung der Hände, dies wiederum zu einer erhöhten kognitiven Leistung. Darüber hinaus spielen genetische Einflüsse eine Rolle, da sich das „Model“ des Homo sapiens als Erfolgsmodel erwies. Ein deutlich prognath (aus dem Gesicht herausragend) liegender Kiefer behindert das Erkennen des Untergrundes beim Gehen, da das Blickfeld eingeschränkt ist. Je weniger Hindernisse am Boden durch den prominenten Kiefer verdeckt werden, desto sicherer und schneller bewegt sich der Mensch [4].
Okklusion und Malokklusion
Die Beurteilung der Okklusion und vor allem von Malokklusion ist in der Paläontologie schwierig, da Kiefer mit Zähnen oft nur fragmentarisch erhalten geblieben sind. Auch bei Menschenaffen ist über Häufigkeit und Art von Retrognathie und Prognathie im Sinne einer Malokklusion in der Literatur kaum etwas zu finden. Dies mag daran liegen, dass eine solche Kieferfehlstellung zu einem erheblichen Nachteil bei der Futtersuche und Nahrungsaufnahme führte. Und damit zu einem wesentlichen Nachteil im evolutionären Konzept „Survival of the fittest“, wonach die am besten angepassten Lebewesen überleben.
Das bedeutet nicht, dass die Zähne der Primaten immer optimal aufeinanderpassten. Insbesondere nahrungsbedingte Abrasionen (Abnützung, Abschabung) führten zu einer Inkongruenz (fehlende Übereinstimmung) der Kauflächen, besonders im höheren Alter. Dies kann aber durchaus einen Einfluss auf die Lebenserwartung der Hominiden haben, wenn die Nahrungsaufnahme dadurch beeinträchtigt wird [5].
Die Malokklusion wirkt sich beim Menschen jedenfalls negativ auf die Kaufunktion aus. Probanden mit einer sogenannten Normokklusion produzierten wesentlich kleinere Partikel von Testnahrungen als Probanden mit einer Dysgnathie bzw. Malokklusion es konnten. Gegenüber der Normokklusionen nahm die Partikelgröße beim Zerkauen von künstlichen, genormten Testkörper um bis zu 35% zu. Das Ergebnis zeigt sich jedoch auch bei natürlichen Nahrungsmitteln wie Karotten, Sellerie oder festem bzw. zähem Fleisch [6].
Es zeigt sich also, dass die Kaufunktion weiterhin ein großer gesundheitlicher Faktor für den modernen Menschen ist. Um Ihre PatientInnen bestmöglich zu behandeln, empfehlen wir die innovativen Produkte von Orehab Minds. Sollten Sie Fragen haben und einen Ansprechpartner benötigen, freuen wir uns, von Ihnen zu hören. Kontaktieren Sie uns!
Gesund bleiben!
Ihr Orehab Minds-Team
1 Laird MF. et al. Chewing efficiency and occlusal functional morphology in modern humans. Journal of Human Evolution 93 1-11 (2016)
2 Berthaume, MA. On the relationship between tooth shape and masticatory efficiency: A finite element study. The Anatomical Record 299.5 679-687. (2016)
3 Slavicek G. Okklusion im Schatten Evidenz basierter Medizin.
Stomatologie 106.2; 17-22 (2009)
4 Holowko B. Why Human Jawbones Shrink so Rapidly in Evolution Scale? International journal of Orthodontics 27.4 (2016)
5 Mills JRE. Occlusion and malocclusion of the teeth of primates. Dental Anthropology Pergamon 29-51 (1963)
6 English JD. et al. Does malocclusion affect masticatory performance? The Angle Orthodontist 72.1 21-27 (2002)
7 Slavicek R. und Mack H. Die funktionelle Morphologie der Okklusion Dental Labor 18, 8/80, 1307-1318 (1980)